„Do you know who I am?“ Das ist eine der Fragen, die B-Boy Ben-J täglich während der Proben im Grand Thétre National in Dakar fragte. Und immer schien er mit seinem eigenen Tanzstil darauf eine Antwort zu geben.
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Dies machte auch die senegalesische Protestbewegung Y’en a marre („Es reicht!“) mit ihren Aufständen im Jahr 2011: Sie zeigten sich zu Hunderttausenden in den Straßen. Dabei beschuldigten sie nicht die Machthaber, sondern riefen zur Selbstverantwortung auf: „Es geht um uns! Wir müssen uns ändern, um das Land zu verändern!” Die Arbeit von Y'en a marre trug Früchte: Die senegalesischen Wähler*innen wählten den korrupten Präsidenten ab. Dennoch erfreute sich diese kleine Sensation im vorwiegend muslimischen Senegal einer eher marginalen Berichterstattung durch die westlichen Medien, ganz zugunsten des arabischen Frühlings, der zwischen 2010 und 2012 zahlreiche Regierungen aus ihren Ämtern fegte.
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Präsident Abdoulaye Wade, der gerade dabei war, sich über eine Verfassungsänderung und durch die Einschüchterung der Opposition zum dritten Mal zum Präsidenten und gleichzeitig zum Vizepräsidenten wiederwählen zu lassen, wurde durch gewaltfreie, demokratische Wahlen gestoppt. Vorausgegangen waren Massenproteste, die den Senegal von Juni 2011 bis zum Januar 2012 erschütterten. Federführend bei der Initiierung und Durchführung des demokratischen Widerstands war die Bürgerbewegung Y‘en a Marre, die von den bekanntesten Intellektuellen, Künstlern und Musikern des Landes gegründet wurde. Sie verfolgte eine friedliche und zugleich massenwirksame Strategie des Protests und wurde zum stärksten Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit des Landes. Die Bewegung griff auf das Vokabular der Hip-Hop-Kultur zurück, benutzte Sprechgesang mit politischen Botschaften, mixte Französisch mit Wolof, der meistgesprochenen Sprache Senegals, und kreierte so eine Protestform, die Mitglieder „urban poetry guerilla“ nannten. Die Aktivisten gingen auf die öffentlichen Plätze der Hauptstadt, in die überfüllten Busse und verwinkelten Märkte, um mit ihren Songs und ihren zwischen stilisierter Kampfkunst und Breakdance changierenden Choreographien die Jugend zu erreichen. Die Methoden der Y'en a marre-Aktivisten inspirierte das Stück Political Bodies, das in Dakar, Toubab Dialaw und Hamburg im Zeitraum Dezember 2014 bis Februar 2015 produziert wurde. Die Körpersprache der Gruppenkämpfe, vermischt mit B-Boying, Krump und zeitgenössischen Tanztechniken, den Gesten des Dissens', der Kraft, die vereinte Körper aussenden – all das wird in einem Wörterbuch des Aufstandes formuliert.. So wie in allen Wörterbüchern Widersprüche und Gegensätze nebeneinandergestellt werden. Das Gefühl der individuellen Enttäuschung trifft auf den Drang zur Gesellschaftsveränderung, das Konzept des ungestümen Afro-Dandys auf die bescheidene Spiritualität des senegalesischen Sufismus. Um es mit den Worten Achille Mbembes zu sagen: Den verschiedenen afrikanischen Kulturen näherzukommen verlangt einer genauen Betrachtung dessen, was durch ihre spezifischen Rhythmen und Energien zutage tritt. Die Geräuschkulisse von Political Bodies vereint den rauhen Ton und die kratzige Stimme des Underground-Rappers und der senegalesischen Hip-Hop Legende Matador mit religiösem Gesang, westafrikanischen Drums, Vogue House-Beats, hartem Kuduro und Geräuschen der Straßen Dakars. Zwischen dem diskurs der afrikanischen Befreiung und der Choreografie der Massenproteste erforschen die Tänzer den Körper als Widerstandswerkzeug, die Beziehung von Tanz und Kampf und wie ihre eigene Biografie sie dazu brachte, ihre eigene Revolution auszurufen.
CREDITS:
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KONZEPT UND REGIE
Yolanda Gutiérrez (Choreographie),
Jens Dietrich
(Dramaturgie)
KÜNSTLERISCHE
ASSISTENZ
Daniel Chelminiak
BÜHNE
Anton Lukas
KOSTÜM
Tukki Mode
PRODUKTION
Janosch Pomerenke
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BERATUNG SENEGAL
Djily Bagdad
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CORPORATE DESIGN
Daniel Sauthoff
MIT
Baïdy Bâ
B-Boy Abdallah
B-Boy Ben-J
Papa Sangone Vieira
Lamine Diagne
Matador
Zen Jefferson
EINE PRODUKTION VON
Political Bodies in Kooperation mit Kampnagel (Hamburg),
HipHop Academy Hamburg, Kulturstiftung des Bundes, Theater im Bauturm (Köln),
L’école de Sables (Dakar), Africulturban (Dakar)
Gesponsort von der Kulturstiftung des Bundes, Kulturbehörde Hamburg, Hamburgische Kulturstiftung, Rudolf-Augstein-
Stiftung, Bezirksregierung Köln, Goethe-Institut Dakar
Uraufführung
Kampnagel, Hamburg
04.02.2015
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