STATE OF THE ARTS
Jens Dietrich
Dass es beim Ende September in Graz stattfindenden Marathon-Camp um eine Überforderung gehen würde, wurde sofort klar, als man den Terminplan online einsehen konnte: 250 Künstler, Theoretiker und Aktivisten waren Teil eines Programms, in dem es um nicht weniger als die Wiedergeburt der Kunst aus dem Geiste des Politischen ging. Rund um die Uhr waren bei der Auftaktveranstaltung des steirischen herbsts Diskussionen angesetzt, Performances und Filme wurden gezeigt, nächtliche Stadtführungen angeboten. In sogenannten Tactic Talks berichteten Künstler über ihre Strategien, die sie in Taiwan, in Ägypten, im Kongo, in Israel und in Mexiko entwickelt hatten, um ihre Projekte zu realisieren. Weitere Programmpunkte wurden spontan von den Teilnehmern organisiert. Das Kuratorenteam um die Intendantin Veronica Kaup-Hasler und den Leitenden Dramaturgen Florian Malzacher war rund um den Globus gereist, um die Leute nach Graz einzuladen, die Teil der allerorten stattfindenden gesellschaftlichen Umbrüchen sind. Sollte sich die Multitude, die uneinheitliche Gemeinsamkeit des offenen Netzwerks, irgendwo auf diesem Erdball tatsächlich manifestieren, so würde sie das im hübschen Graz nahe der slowenischen Grenze beim siebentägigen niemals schlafenden Theoriepraxismarathon Truth is concrete tun. Ein Camp, bei dem lauter quirlige Singularitäten trotz aller Missverständnisse beständig die Deutungshoheiten zwischen Soziologie, Theater, bildender Kunst, Politik und öffentlicher Aktion hin und her verschieben. Würde sich eine gemeinsame Linie finden lassen, ein Statement, dem alle zustimmen würden? Was können Kunst und Politaktivismus voneinander lernen? Oder geht es erst einmal um eine Bestandsaufnahme? Um den Abgleich der Einschätzung der Verhältnisse?
Ich war als Vertreter des International Institute of Political Murder eingeladen, um unsere letzte Arbeit Hate Radio, die Rekonstruktion eines Sendenachmittags des populären ruandischen Radiosender RTLM vorzustellen, der den Völkermord gegen die Tutsi 1993/94 propagandistisch vorbereitet hatte. Wir hatten die realen Akteure getroffen, Militärs und Politiker, mehrere Interviews mit einer inhaftierten Moderatorin geführt und eng mit ruandischen Institutionen zusammen gearbeitet. Eine der ersten Aufführungen fand im Originalstudio in Kigali statt, und das Projekt wurde so nicht nur die Wiederholung eines traumatisierenden Ereignisses, sondern machte es für das Publikum im Augenblick der Aufführung nachvollziehbar, wie totalitäre, rassistische Denkmuster in das alltägliche Denken einsickern. Ich war neugierig, die anderen Künstler kennen zu lernen, die zeitgleich auf ihre Weise an der Verknüpfung von Politik und Kunst arbeiteten.
Ich stand oben an der Bar im Festivalzentrum mit der irakisch-niederländischen Künstlerin Urok Shirhan Alsaedy stand, und wir sprachen über den Lebensstil des Künstler-Poverty Jet Set, von der Entscheidung, zu niedrigen Löhnen an ständig wechselnden Orten Projekte zu realisieren. Urok erzählte, dass sie gerade dabei sei, die Videoaufnahmen, die ihr Vater 2004 in Bagdad gemacht hatte, so zu montieren, dass sie mit dem Irak-Film des Kriegsreporters Peter Arnett identisch waren. Vom Truth is concrete-Camp aus war sie auf dem Weg in den Libanon, wo sie kontinuierlicher an einem Forschungsprojekt über die Bilderproduktion der amerikanischen Invasionen arbeiten würde. Mehr dazu später, sagten wir. Unten im Kongresssaal hatte Omer Krieger schon mit der Präsentation seiner neuen Rolle als State Artist begonnen. Das Camp vermittelte beständig das Gefühl, dass man etwas verpasste, und ich beeilte mich, die Treppen hinunter zum Vortrag zu kommen. Krieger, unter anderem auch Mitglied der israelischen Gruppe Public Movement, hatte sich vor dem vollen Auditorium am Stehpult auf der Bühne in Fahrt geredet und präsentierte stolz das Dokument, das vom Präsidenten der Knesset unterschrieben war und ihn als offiziellen künstlerischen Repräsentanten Israels auswies. Warum er sich dafür zur Verfügung gestellt habe? Macht habe ihn schon immer interessiert. Macht und Einfluss, das sei es, was die Kunst suche, um sich entfalten zu können. Zwar gäbe es natürlich privatistische Argumente, die den Widerstand romantisierten. Aber bei nüchterner Analyse sehe man, dass die diversen Communities, die ideologischen Splittergruppen und die sich in endlosen Diskussionen weiter ausdifferenzierenden Subsysteme im Vergleich zum Staat einen verschwindend geringen Wirkungsbereich haben. In der Zuhörerschaft breitete sich Unruhe aus, hinter mir links ein nervöses Lachen. Man tuschelte, ob das jetzt wirklich Omers Ernst sei, zu gutgelaunt wirkt sein Auftritt. Und Omers Wunsch nach Deckungsgleichheit von Macht und Kunst steht in krassem Gegensatz zur gelebten Vielfalt und dissidenten Grundhaltung des Kongresses.
Dmitri Vilensky von der russischen Gruppe Chto Delat hakte beherzt nach, ob sich Krieger, da er nun den Staat darstelle, auch für die Verbrechen des israelischen Staates verantwortlich fühle. Krieger, ganz der Praktiker der Macht, der Machiavelli in die Sphäre der Kunst befördert, meinte, man könne ja auch nicht dem Staatsanwalt die Vergehen der Exekutive anlasten. In erster Linie gehe es um individuelle Verantwortlichkeiten. Und genau das schien für Udi Aloni, amerikanisch-israelischer Künstler, der springende Punkt zu sein. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl, seine Empörung brach sich Bahn. Jeder einzelne Künstler habe die Verantwortung, nicht mit dem Apartheidssystem in Israel zusammen zu arbeiten, in Jerusalem dürften 200.000 Palästinenser nicht wählen. Plötzlich öffnete sich ein interner israelischer Streit, die Argumente flogen hin und her: Apartheid sei keine treffende Beschreibung für die Situation, schließlich haben alle Israelis, ob jüdisch oder arabisch, die gleichen Rechte. Die Maßnahmen dienten nur der Sicherheit, Diskriminierung sei strafbar. Dann war die Zeit um, und im Anschluss konnte man im extra dafür eingerichteten Continuity room im kleinen Kreis weiter reden.
Gelegenheiten zur Aufregung gab es reichlich beim Marathon-Camp, denn oftmals wurde auf dem Podium das exakte Gegenteil der jeweils eigenen Auffassung vertreten. Und da äußerst viele Auffassungen versammelt waren, stellte sich die dementsprechende Dissonanz ein. Chantal Mouffe befürwortete bei der von ihr kuratierten Diskussionsrunde über die Grundfrage, ob Kunst zugleich politisch und kritisch sein könne, diesen Zustand als das antagonistische Prinzip. Und dieses Prinzip liege allem Politischen zu Grunde, so dass sie sich bei allen in der Diskussion auftretenden Widersprüchen höchst erfreut zeigte. Bis auf wenige Ausnahmen stimmten jedoch die meisten der These zu, dass sich die Kunst der Vereinnahmung durch die Institutionen entziehen und als Akteur im politischen Feld agieren könne. Der Philosoph und Kunsttheoretiker Gerald Raunig beschrieb die verschiedenen Methoden, die die politischen Künste anwendeten, als unterschiedliche Maschinen, die in ihren jeweiligen Kontexten funktionierten, und sich alle dadurch auszeichnen, dass sie Situationen nicht darstellen, sondern herstellen. Stephen Wright, Professor an der Pariser Schule der visuellen Künste, ging noch einen Schritt weiter, und forderte nach dem political turn, den die Kunst derzeit unterlaufe, ihre komplette De-Ontologisierung. Da es einfach zu viele Dinge gebe, die mit dem Begriff Kunst verbunden werden, sei die Kant’sche Rahmung der Kunst als absichtslose Absicht wahrgenommen durch einen uninteressierten Beobachter für unsere heutige Zeit hinderlich. Wir seien nicht mehr die Nichten und Neffen von Duchamp, sondern die von ihm zurück gelassenen Waisen. Es mache also keinen Sinn mehr, von Kunst an sich zu sprechen. Die Aufgabe der Kunst führe zu der Erkenntnis, dass in allen Dingen und Aktionen ein künstlerischer Ko-Effizient vorhanden sei, z.B. in einer Bibliothek oder in einer Demonstration. Der Saal hatte sich mittlerweile geleert. Wahrscheinlich lief irgendwo eine andere Veranstaltung des Open Marathon, der von den Kongressteilnehmern selbst organisiert und dann per Facebook bekannt gegeben wurde. Ich fragte mich, wie die theoretisch durchaus interessanten Ausführungen von Wright an die Kunstpraxis angeschlossen werden konnten. Ein Herr aus dem Publikum tat das auf seine Weise, stand auf und signalisierte spontane Zustimmung. Er habe sich immer unwohl gefühlt, wenn er irgendwo als Künstler eingeladen wurde. Er selbst begreife sich eher als Netzwerkgestalter. So mäanderten die Themen durch die Köpfe, verformten sich bei der Übersetzung in den eigenen Kontext. Und die kritische Reflexion sorgte gerade in ihrer bestechenden Klarheit für zusätzliche Unsicherheiten, ob es Sinn machen würde, Kunst und Politik gemeinsam zu denken. Der politische Philosoph Oliver Marchart fasste die gegenwärtige Situation zusammen: Die politische Kunst habe im Augenblick Hochkonjunktur. Nicht nur auf der dOCUMENTA (13) sei die soziale Intervention en vogue gewesen, auch mehrere europäische Kunstzeitschriften hätten den Aktivismus auf ihre Titelseiten manövriert. Politik sei aber kein Wert an sich. Es gehe immer um die Entscheidung für eine Option, die andere Optionen ausschließe. Und da müsse man sich fragen, ob die jetzt im Raum Anwesenden für die gleichen Optionen stimmen würden. Stille breitete sich aus. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kongress sich sehr weit von einer gemeinsamen Agenda entfernt.
Tatsächlich, eine Agenda war ausgeschlossen, zu unterschiedlich die Lebenswelten der Teilnehmer. Ich ließ mich weiter durch das Programm treiben. Ein Film von Omer Krieger wurde gezeigt, der als Spot im israelischen Privatfernsehen lief und sich kritisch mit der Siedlungspolitik beschäftigte. Udi Aloni, der in seinem letzten Buch What does a Jew want für einen gemeinsamen Staat Israel-Palästina wirbt und damit auf allen Seiten für Wirbel sorgte, stellte das von Juliano Mer Khamis im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin gegründete Freedom Theatre vor. 2010 hatte Aloni mit der Zusammenarbeit begonnen und drehte mit den Teenagern aus dem Lager Hip-Hop-Videos im Stil von Public Enemy. Als 2011 Mer Khamis erschossen wurde, übernahm Aloni die Regie für While Waiting, die palästinensische Version von Waiting for Godot, das die Schauspielstudenten des Freedom Theatres selbst ins Arabische übersetzten und mit der sie nach New York und Berlin tourten.
Ich stand wieder an Lailas Bar und sprach mit dem in Kenia lebenden englischen Künstler Sam Hopkins, der gerade ein Projekt in den dicht besiedelten Vororten Nairobis vorbereitete, die soziokulturell die gleichen Eigenschaften aufweisen wie die Mietskasernen Berlins im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ein brasilianischer Galerist stellte sich interessiert dazu und wollte unbedingt mehr Informationen haben, um die Arbeit vielleicht im nächsten Jahr auszustellen. Überall und beständig bildeten sich solche wild zusammen gewürfelten Grüppchen. Man suchte nach Gemeinsamkeiten, nach Anregungen und Allianzen, man grenzte sich ab und schloss aus, was im eigenen Kosmos keine Relevanz besaß. Australisches, südkoreanisches, arabisches und französisches Englisch vermischten sich zu einem Hintergrundrauschen, politische Positionen wurden wieder soziologischen Analysen unterzogen, die Aktivisten forderten Aktionen statt Reflexionen, die Künstler fragten sich, worauf denn nun die Theoretiker hinaus wollten, und die Theoretiker dachten schon an den nächsten bevorstehenden Paradigmenwechsel. Die abstrakten Begriffe schwirrten wie hartnäckige Mücken herum und ließen sich hier und dort auf den Gästen nieder, fest entschlossen, ihre blutleere Existenz zu überwinden. Missverständnisse wurden produktiv genutzt, um das eigene Gedankengebäude zu erweitern, Klärungen der eigenen Position im ideologischen Koordinatensystem vorgenommen. Allerorten war zu hören, dass die Kunst ein Werkzeug sei, mit dem sich gesellschaftliche Prozesse in Gang bringen ließen. In einem Gespräch lief mir die Metapher über den Weg, dass das Camp wie ein Chirurgenkongress sei. Die Teilnehmer schneiden in ihrem Arbeitsleben mit unterschiedlichen Methoden an den verschiedenen Organen des Gesellschaftskörper herum. Und in Graz versammelte man sich, um sich über die vielversprechendsten neuen Therapien, die einschlagendsten Operationserfolge auszutauschen, aber auch, um aus den fehlgeschlagenen Experimenten Konsequenzen zu ziehen.
Langsam nahmen im Laufe des Kongresses in den Diskussionen auf dem Podium, in den Gesprächen an der Bar, in den auf Facebook kurzfristig ausgeschriebenen, selbst organisierten Workshops, in den Blogs, die das Camp begleiteten, den zahlreichen Lectures und im campeigenen Radiostudio einige Arbeitshypothesen Gestalt an: Erstens hat die Grundannahme, dass die Wirklichkeit zu komplex sei, als dass die Kunst sie beschreiben könne, die Kunst in eine Sackgasse manövriert. Zweitens schließt die momentan europaweit praktizierte Politik des Pragmatismus und des Konsens’ die Möglichkeit der Gestaltung der Wirklichkeit aus. Drittens hat die vorgenommene Unterteilung der Kunst in eine kritische, marginale und zugleich elitäre Kunst und eine von der Bevölkerungsmehrheit konsumierten Unterhaltungskunst dazu geführt, dass der Kunst ihre politische Dimension abgesprochen wird. Künstlern und Aktivisten eröffnen sich neue Handlungsspielräume, indem sie Kunst und Politik gemeinsam denken. Es wird in den kommenden Jahren darum gehen, Kunst populär zu machen und ihr so einen größeren Wirkungsbereich zu erarbeiten. Eine Weiterentwicklung in diesem
Denn heute könne
Am späten Abend, nach der Gesprächsrunde über die Notwendigkeit eines linken Populismus, der neue, positive Mythen ins Leben ruft, und vor der nächtlichen Performance-Lecture über die verlorene und wiederzuentdeckende Identität Manilas, stand die Analyse des Scheiterns der Occupy-Bewegung im Mittelpunkt. Der große Saal war voll besetzt. Zahlreiche Mitglieder des weltweiten Zeltlager-Protests waren anwesend und beschrieben, wie sie nach einem halbjährigen Medienrausch verkatert aufwachten und einsehen mussten, dass um sie herum die Welt sich weiter drehte, als wäre nichts gewesen. Schnell einigte man sich, dass eine Glorifizierung der Aktionen nicht hilfreich sei und man zugleich anerkennen müsse, dass der Occupy-Protest ein völlig neues, niemals zuvor dagewesenes Phänomen darstellte. Habe man früher zuerst eine Idee artikuliert, dann Massen versammelt und schließlich eine gemeinsame Aktion gestartet, war es nun möglich, durch die neuen Medien zuerst eine Aktion zu gestalten, z.B. ein Museum zu besetzen, dadurch Leute anzulocken und erst im Anschluss eine gemeinsame Idee zu entwickeln. Das dies durchaus parodistische Züge annehmen konnte, machte ein Beitrag des niederländischen Künstlers Jonas Stahl deutlich. Er hatte selbst mehrere Wochen im Amsterdamer Camp verbracht und die Situation als das Reenactment eines politischen Protestes empfunden, der irgendwann in grauer Vorzeit mal eine Bedeutung gehabt habe, mittlerweile aber nur entleerte Hülle sei. Man habe tagelang diskutiert, entschieden hätten dann die, die am längsten, das heißt in diesem Fall mehrere Wochen lang ausgehalten hätten, und dann sei das Camp aufgelöst worden. Der zutiefst positive Aspekt daran – und dass sei durchaus ein mehr als marginaler Erkenntnisgewinn, weil er einer praktischen Erfahrung und keiner theoretischen Überlegung entspringe – sei gewesen, dass man gemerkt habe, dass man die Verantwortung für die Artikulation der eigenen Position keinem anderen überlassen könne.