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Berlin, 10. April 2009

Unzählige Mails von jungen Schauspielschülerinnen treffen ein, die sich für das Casting im Teatrul Odeon bewerben. Leider keine von älteren Herren. Änderung der Strategie: Über Skype Absprache mit Alexandru, dass er rumfragen soll, gute Schauspieler direkt ansprechen. Nur die Netzwerke bringen etwas, die informelle Selbstorganisation. Und der Ruf und die Informationen pflanzen sich fort, wie auch in Zürich oder Berlin, nur extremer und komprimierter. Terminabsprachen mit der Deutschen und der Schweizer Botschaft für die Bukarester Voraufführungen. William Totok schreibt nach dem Treffen gestern im „Dicken Engel“ in Berlin zurück. Er hat zwei Interviews angehängt. Im ersten sagt Voican-Voiculescu, der von allen als die treibende Kraft des Prozesses und absoluter Befürworter des Todesurteils beschrieben wird, dass er Mitleid mit den Ceausescus gehabt hätte, die wie Marsmenschen in der Gerichtsverhandlungen gesessen seien und nicht verstanden hätten, was um sie herum passierte. Im zweiten Interview beschwert sich der Soldat Gheorghiu, dass Boeru, der Hauptmann des Erschießungskommandos, behaupten würde, er, Boeru, habe allein die Ceausescus exekutiert. Ich gehe noch mal das Interview zwischen Boeru und dem Stern-Reporter Schepp durch und finde nichts dergleichen. Was die Vorgänge der Revolution betrifft, scheint nichts gesichert, alle Beteiligten liefern mehrere Versionen der Abläufe. Dazwischen blühen die Verschwörungstheorien: die Altkommunisten, die Autoren des „Letter of Six“, haben mit dem KGB, der CIA, Bush sen. und auf alle Fälle mit Gorbatschow einen Masterplan zur Durchführung der Revolution entwickelt. Und Sergiu Nicolaescu, Ceausescus Lieblingsregisseur und Erschaffer gigantomanischer Historienfilme über die Daker, hat das Drehbuch inszeniert mit einem recht großen Statistencast von 20 Millionen Rumänen – und der Vollständigkeit halber auch gleich das Hinrichtungsvideo geschnitten. Warum überall dieses Misstrauen? Weil jeder König in seinem eigenen, kleinen Reich sein will? Freue mich auf den nächsten Besuch.

 

Bukarest, 27. April 2009

9 Uhr – Casting mit Coca Bloos im Teatrul Odeon im barock-plüschigen Sitzungssaal neben dem Intendantenbüro. Coca meint, sie hätte bereits einmal in einer Komödie eines ehemaligen Securitate-Mitarbeiters über das Leben der Ceausescus gespielt, deshalb will sie bei uns keine Elena sein. Ein Schauspieler vom Nationaltheater, Mitte 40, erzählt die Geschichte, wie er als Soldat in der besetzten Fernsehstation miterlebt hat, wie neben ihm ein dicker Soldat erschossen wurde. Wortwörtlich: „Der Mann fällt langsam um, wie im Film, das Blut quillt aus der Halswunde und verteilt sich langsam auf dem Boden.“ Später taucht die Frage auf, ob überhaupt jemand dort erschossen wurde. Man geht davon aus, dass nicht. Doch dass die eigenen Erinnerungen faktisch nicht stimmen können und im Widerspruch zu unzähligen anderen Aussagen stehen, raubt ihnen nichts an Heftigkeit und Plastizität; es macht es nur ungleich viel schwieriger, die einzelnen Geschichten in einen einigermaßen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Constantin Draganescu begeistert uns. Constantin Cojocaru, der Ceausescu spielen wird, habe ich noch als Lichtgestalt in einer 4stündigen Adaption des Gilgamesch-Epos in Erinnerung. Kurz nach seinem Auftritt gab es ein Erdbeben der Stärke 5, viele Zuschauer verließen rennend das Theater. Am Nachmittag zuletzt Victoria Cocias, sie hat äußerlich nichts von Elena, dann aber völlig unvermittelt ihre Härte. Uns geht es ja nicht um Ähnlichkeiten, nicht um die Kopie der Wirklichkeit, es geht im Idealfall um die Ersetzung des Originals. Darum, eine größere Schärfe, eine größere Genauigkeit als die Geschichte selbst zu erzielen.

 

Berlin, 7. Juli 2009

Bühnenbildtreffen in der Greifswalder Straße. Auf dem Tisch liegen die Fotos von den kalten Februartagen in der Kaserne in Targoviste, die Kerzen vor der Mauer rufen großes Erstaunen hervor. Wir gehen unsere Überlegungen durch: Vom ursprünglichen Reenactment-Gedanken über das osmotisch offene, synästhetische Gesamtkunstwerk Syberberg’scher Prägung (sein Hitler-Film) bis zum sakral-formalen, modernistischen Kirchenraum (mit Chören, Nachwehen des Treffens mit dem Musiker Mircea Florian beim Casting). Zusammengefasst: das Größenwahnsinnige, das Unheimliche, das Barocke. Aufgeteilt in verschiedene Zonen auf der Bühne, hinten im Rückraum ein Triptychon, eine Art Genter Altar als Projektionswand für filmisches Archivmaterial: Schneegestöber, Soldaten, auffahrende Panzer, Menschenmassen, die ekstatisch die Freiheit zelebrieren und nicht wissen, wohin mit dem Hochgefühl. Beides wäre dann zugleich im Bühnenraum: das Kleine, Private, Naturalistische. Und das Große, Totalitäre, Religiöse.

Beim Sprechen darüber wird klar, dass es so nicht funktionieren kann. Zurück zum Ausgangsimpuls: das Ungeheuerliche wird dadurch erfahrbar, dass es kalt und klar abgebildet wird, ohne Interpretation. Verwirrung über die Position der Ceausescus: In welcher Ecke des Raums haben sie gesessen? Wo war der Richter Gica Popa? Die Grundsatzentscheidung: Wir bauen die Kaserne so nach, wie sie im Kopf des Zuschauers beim Betrachten des Prozessvideos entsteht. In Wirklichkeit sind die Ausmaße kleiner, aber eine Größenanpassung schafft das Gefühl, den realen Raum vor sich zu haben. Die Übernahme der Originalabmessungen hingegen würde wie eine surrealistische Verdichtung anmuten.

 

Bukarest, 26. Juli 2009

Traf, langsam überrascht es mich nicht mehr, mal wieder Annett Müller im Flugzeug. Sie erzählte, dass Teodor Maries, Vorsitzender des Verbandes „21. Dezember“, der die Revolutionsopfer vertritt, vor dem Präsidialamt in den Hungerstreik getreten sei. Er fordere von der Regierung die Freigabe der Militärakten über den Sturz der Ceausescus. Größere Reaktionen habe es auf Maries’ Streik nicht gegeben, es stünde schließlich Wichtigeres im Land an. Es knirscht und kriselt in der Koalition, überall spricht man von der Regierungsauflösung. Die Gegenwart ist so von Schwierigkeiten und Ungereimtheiten überladen, dass die Tage der Revolution unscharf, unbedeutend und sehr weit weg zu sein scheinen. Je mehr wir uns jedoch in die Ereignisse des Dezembers ’89 vertiefen, desto deutlicher werden die Linien in die Gegenwart, die Kontinuitäten hinter den nicht sehr tief greifenden Neustrukturierungen. Bei der Ankunft kurz bei Filipescu angerufen und schon gleich einen Termin für später ausgemacht. Kommen nachmittags bei strömendem Regen vor der Dissidenten-Zentrale neben dem Green Hours an. Er sitzt drüben in seinem Büro, tippt hektisch in sein Blackberry und meint, unser Internetauftritt sei ja nett gestaltet. Dann Lachen, herzliche Lockerheit. Wir steigen unverfänglich ein. Bin über meine Rührung überrascht, dass jemand so moralisch aufrecht und uneitel Widerstand geleistet hat. Kurze Bewusstwerdung, dass uns im Westen in der Hinsicht etwas fehlt. Ist das so: Nur wo es einen ungerechten Feind gibt, kann es Heroismus geben? Zwei Jahre Gefängnis wegen Flugblätterverteilens. Schläge, Angst, Erniedrigung. Ich erschrecke darüber, dass ich ganz kurz misstrauisch bin, ob Filipescus Geschichte stimmt, ob er sie nicht erfunden hat und nun selbst glaubt. Die Warnhinweise im Hinterkopf (Herta Müller, Andrei Ujica, Ion Caramitru), dass die Securitate-Leute, die während der Revolution im Fernsehstudio waren, im Januar ’90 einen Ausweis als Helden der Revolution bekommen haben, der ihnen billige Wohnungen und eine Pension garantiert hat. Dass die Dichter, die Loblieder auf Ceausescu gesungen haben, später seine größten Feinde gewesen sein wollen. Ich entscheide mich für den Gedanken, dass es Leute gibt, die für ihre Überzeugungen eintreten, selbstlos.

 

Bukarest, 01. September 2009

Kurz nach neun im Büro von Dorina Lazar im Teatrul Odeon. Anton verteilt die unzähligen Skizzen und Detailzeichnungen auf dem Tisch, baut das Bühnenbildmodell zusammen. Alle, inkl. Tamara, die Sekretärin, und Herr Oprea, der Werkstättenleiter, sitzen gebannt um den Tisch und scheinen kurz hypnotisiert zu sein, eine kleine Welt entsteht, die später zur großen Halluzination von jenem Geschichtsraum in Targoviste werden soll. Dorina Lazar steht abrupt auf, wedelt abwehrend. Nein, geht nicht. Viel zu kompliziert. Herr Oprea brummt unentschlossen. Morgen, da könnten wir eine Freundin treffen, die habe eine Firma, die so was baut, sehr professionell, beim Preis könne sie mitverhandeln... Die direkten Wege haben den Ruf des Belanglosen hier, nur was umständlich realisiert werden kann, sammelt unterwegs Bedeutung an.

Kurzer Kaffee in der French Bakery um die Ecke, dann das Treffen mit Taranu, Parlamentarier und Leiter des Think Tanks der Basescu-Partei, vor dem Nationaltheater.  Leicht unwirsch schüttelt er allen die Hände. Es knirscht und kriselt in der Koalition, er spricht von der Regierungsauflösung nach den Präsidentschaftswahlen am 22. November. Was für ein Zeitfenster wir hätten, fragt er. Er könne uns nur ein paar wenige Termine für das Reenactment im Haus des Volkes vor dem Parlament anbieten. Überall wird mit Straßennamen und Denkmälern der Revolution und der Toten gedacht. Aber niemand weiß, was ablief. Annett Müller – mal wieder im Flugzeug getroffen – meinte, ein Intellektueller, der Name ist mir wieder entfallen, sei in den Hungerstreik getreten. Er weigere sich so lange zu essen, bis endlich im Parlament die Dezembertage ’89 aufgearbeitet würden. Wir wären also mittendrin: In jenem marmorüberladenen Tyrannenprestigeobjekt, auf das alle maßlos stolz sind, weil es das Gewichtigste und Größte ist, was die Rumänen geschaffen haben.

 

Bukarest, 30. Oktober, 2009

Um zehn erste Probe in Kostümen, Gesamtablauf in der Besetzung für die Voraufführung im Teatrul Act. Die Heizung ist mal wieder ausgefallen. Adrian richtet die von den Hausmeistern eilends herbeigeschafften Heizstrahler immer wieder neu aus, um den perfekten Winkel für die optimale Wärmeabgabe zu finden. Marcel dreht schon mal mit. Gespannte Nervosität seitens der Schauspieler, man bewegt sich auf unbekanntem Terrain. Alexandru als Dolmetscher schafft jene Distanz, die notwendig ist, um die Atmosphäre von Historizität zu schaffen. Und das Ganze ein Ereignisraum, in dem alles vergrößert wird, in dem jeder Fehler, jede falsche Aussage eine neue Wahrheit wird. Nach der Probe die Feststellung, dass es einer Umkehrung bedarf: das Prozessvideo auf der Bühne zu zeigen muss sich im Vorgang spiegeln, die realen Erlebnisse im Prolog als Videoinstallation zu überhöhen.

Mittags die vierte Vertragsverhandlung mit Dorina Lazar, sie will noch einige Änderungen vornehmen. Die einfachen Wege haben den Ruf des Belanglosen hier, nur was umständlich realisiert werden kann, sammelt unterwegs Bedeutung an. Als ich Dorina eröffne, dass im Foyer 6 Stelen, also Videoskulpturen der Schauspieler stehen werden, fasst sie mich am Arm und meint: „Darling, you send me to Auschwitz.“ In solchen Momenten wäre ich gern Schweizer.

Mittags schickt Florin Sari eine Mail, dass das Innenministerium und die Gefängnisleitung zugesagt hätten, dass Stanculescu zur Premiere im Odeon erscheinen kann. Voraussetzung sei, dass er weder beschimpft noch angegriffen werde. Nach dem Reenactment ist eine Diskussion mit Stanculescu im Bühnenbild geplant. Der General wird wieder auf seinem Platz sitzen, 20 Jahre später, nicht mehr weit vom Tod entfernt und wird wieder die Frage stellen, wo denn Weiß aufhört und Grau beginnt. Das Fernsehen wird filmen, wie sich Geschichte wiederholt. Und vielleicht wird kurz die Idee aufkommen, dass neben der Analyse von Geschichte auch das Gefühl von Verantwortlichkeit für den Fortgang der Dinge entscheidend ist.

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